Vierteljahresschrift für das Gesamtgebiet der katholischen Theologie
Begründet von Kardinal Leo Scheffczyk • ISSN 0178-1626
Navigation

Zusammenfassung

Michael Stickelbroeck:
Die unmittelbare Gottesschau und das menschliche Wissen der Seele Christi bei Johannes Duns Scotus
(FKTh 2015-3, S. 178–197)

Die Quaestionen 1–4 der 13. Distincio im III. Buch des Sentenzenkommentars, den Johannes Duns Scotus in Oxford und Paris verfasst hat, behandeln die Frage nach dem Verhältnis von göttlichem und menschlichem Wissen der Seele Christi, die durch den Status der beständigen Gottesschau (visio) nicht nur über die Erkenntnis von natürlich Wissbarem, sondern auch von Objekten verfügt, die sie im Wort schaut. Für Scotus beherrscht die unaufhebbare Differenz zwischen Göttlichem und Menschlichem, die in der hypostatischen Union der beiden Naturen aufrecht bleibt, auch die Erkenntnisweise Christi:

Der menschliche Erkenntnisakt kann nicht einfachhin mit der göttlichen Erkenntnis des Wortes identisch sein, auch wenn die Seele Christi aktuell alle Dinge im Verbum sieht, genauso wie sie das Wort selbst sub ratione infiniti schaut. Dem Verstand Christi muss jedwede Vollkommenheit eigenen, die nur immer einem geschaffenen Intellekt zukommen kann. Doch hebt die Erkenntnis aller Dinge in ihrer eigenen objektiven Realität nicht die Begrenztheit und Endlichkeit eines geschaffenen Vermögens auf. Christus erkannte die Dinge mit abstraktiver und intuitiver Erkenntnis. Dabei führt die abstraktive Erkenntnis nicht zur Erfassung der Dinge in ihrer Singularität und Kontingenz. Daher war er auf die intuitive Erkenntnis verwiesen, die eine Präsenz des Objektes in seiner aktualen Existenz verlangt.

Und auf dieser Ebene zeigt sich die Notwendigkeit, dass Christus in seinem Erfahrungswissen, dessen Erwerb an die Sinneswahrnehmung gekoppelt ist, durch Lernen voranschritt. Gerade in der Aneignung von menschlichem Erfahrungswissen zeigt sich, dass Christus viator mit uns war. So drückt sich das chalcedonische »Unvermischt und »Ungetrennt« für Scotus darin aus, dass die menschliche Verstandestätigkeit Jesu und das schöpferische Erkennen des Logos zwei inkommensurable Größen sind, die nicht in die Einheit eines einzigen »Bewusstseins« verschwimmen.

© FKTh 2024