Vierteljahresschrift für das Gesamtgebiet der katholischen Theologie
Begründet von Kardinal Leo Scheffczyk • ISSN 0178-1626
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Zusammenfassung

Norbert Jacoby:
Ich und der Vater sind eins (Joh 10,30 EU):
Ein neuer Versuch
(FKTh 2016-1, S. 24–55)

Der Aufsatz setzt bei der Überlegung an, dass dem Evangelisten Johannes schwerlich unterstellt werden darf, er habe seine Aussagen über den göttlichen und den menschlichen Jesus widersprüchlich konzipiert. Den Schlüssel zu einer widerspruchsfreien Interpretation bietet die antike Freundschaftslehre, deren beste theoretische Darstellung die in hellenistischer Zeit durchgehend bekannte Nikomachische Ethik des Aristoteles bietet. Da diese Konzeption auch in populären Texten der Antike weit verbreitet ist, braucht keineswegs vorausgesetzt zu werden, dass der Evangelist Aristotelestexte rezipiert habe.

Die platonisch-aristotelische Analyse der menschlichen ψυχή kann als Ausgangspunkt auch für eine moderne Interpretation dienen. Mehrere Menschen mit je eigener ψυχή als personaler ὑπόστασις können gemeinsam etwa über das Haus-εἶδος/ὄν – in der Regel auch nach der Erkenntnis nur δυνάµει – verfügen. Diese Hauserkenntnis ist zwar an raumzeitlichen Häusern gleichsam abgegriffen, aber keineswegs auf die Summe der erkannten Häuser beschränkt: Ein völlig neu konzipiertes Haus kann von unterschiedlich sozialisierten Menschen, falls sprachliche Missverständnisse ausgeräumt sind, jeweils ohne den geringsten Zweifel – also intersubjektiv – als Haus erkannt werden, da der Begriff des Hauses auf keinen Typus eines kontingenten Hauses beschränkt ist. Analog verfügen die göttlichen Personen mit ebenfalls je eigener ὑπόστασις gemeinsam über sämtliche εἴδη/ὄντα – freilich, da identisch mit ihrem Sein, ἐνεργείᾳ, d.h. ohne zeitliche oder räumliche Einschränkung. Auch der Mensch integriert ein neu erworbenes εἶδος/ὄν nicht als Fremdkörper in seine ὑπόστασις, sondern aktiviert bei der entsprechenden Einzelerkenntnis den zu genau dieser Erkenntnis fähigen Bereich seiner ψυχή, präziser seines intellectus possibilis.

Menschliche Freundschaft ist für Aristoteles umso inniger, je mehr Einzelerkenntnisse gemeinsam aktiviert werden. Im aristotelischen Idealfall wird bereits der optimale menschliche Freund zu einem ἄλλος αὐτός, d.h. einerseits zu einem in Bezug auf die erkannten Inhalte vollkommen identischen αὐτός, andererseits zu einem den Inhalten zugrunde liegenden, in einer eigenen ψυχή unterschiedenen ἕν-Prinzip und insofern zu einem ἄλλος. Diese ἄλλος αὐτός-Formel wird geradezu zu einem antiken Schlagwort für gelungene Freundschaften.

Im Unterschied zum Menschen sind – wie beim unbewegten Beweger des Aristoteles – die göttlichen ὑποστάσεις in den Bereichen aller ὄντα jederzeit gleichsam voll aktiviert, so dass sie im Höchstmaß einander ἄλλος αὐτός sind. Wenn das Johannesevangelium einerseits für Jesus volle Menschheit beansprucht, würde die Inkarnation implizieren, dass beim menschlichen Jesus die göttliche ἐνέργεια-Verfügung über alle ὄντα auf die menschliche δύναµις-Verfügung reduziert ist. Wenn das Johannesevangelium andererseits die Göttlichkeit auch des irdischen Jesus u.a. in 10,30 behauptet und an Wundern und Weissagungen exemplifiziert, würde das heißen, dass der menschliche Jesus des Evangeliums jederzeit die göttlichen Möglichkeiten in dem jeweils relevanten Teilbereich reaktivieren kann, ohne den zeitraubenden Umweg über kontingente naturgesetzlich verhaftete Instanzen zu gehen. Dies ist gleichsam die Verlängerung verbreiteter Alltagserfahrung: Hochintelligente Menschen brauchen im Unterschied zu anderen häufig nur wenige Beispiele, um eine für sie neue intelligible Erkenntnis zu gewinnen, die ja wie jedes εἶδος/ὄν (im Unterschied zu einer φαντασία) jedweder Kontingenz enthoben ist.

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